14.07.2025
Das geheime Leben der Deutschen
Mein neues Buch “ Das geheime Leben der Deutschen” erscheint am 27.08.2025
Das geheime Leben der Deutschen
Mein neues Buch “ Das geheime Leben der Deutschen” erscheint am 27.08.2025
Der russische Schriftsteller Anton Tschechow, der seinen Lebensunterhalt als Arzt verdiente, heilte nebenbei seine zahlreichen cholerischen Freunde. Er wusste, dass die meisten Krankheiten durch Einbildung und Stress entstehen. „Stehen Sie auf, ziehen sie sich etwas Schönes an, gehen Sie in die Kantine und bestellen sie eine Fischsoljanka“ schrieb Tschechow seinen kranken Freunden. „Und vergessen Sie nicht, zwei kalte Wodka mit Salzgurke als Vorspeise zu sich zu nehmen. Ich versichere Ihnen, es wird ihre Krankheitssymptome deutlich mildern.“ Seine Heilmethode funktionierte ausgezeichnet. Nur sich selbst konnte er damit nicht heilen. Er diagnostizierte bei sich sehr früh Tuberkulose und schrieb wahrscheinlich deswegen keine dicken Romane. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb und hatte Angst, einen Roman nicht zu Ende bringen zu können. Stattdessen konzentrierte er sich auf lustige Kurzgeschichten. Eine, die er vor über 140 Jahren verfasste, heißt „Der Tod des Beamten“
In dieser nur eine halbe Seite langen Erzählung niest ein in der zweiten Reihe sitzender Beamte während der Vorstellung im Theater aus Versehen auf die Glatze eines vor ihm in der ersten Reihe sitzenden Generals. Der Angenieste merkt es nicht einmal, doch unser Beamte erschrickt und versucht, sich beim General zu entschuldigen.
Je unterwürfiger sich der Beamter entschuldigt umso genervter wird der General. Der Nieser bekommt es mit der Angst zu tun, er entschuldigt sich immer wieder aufs Neue, bis ihn der General anschreit. Zu Tode erschreckt bekommt unser Beamter Zuhause einen Schlaganfall und stirbt. Im Grunde war es Selbstmord, in seiner Angst vor dem Mächtigen hat er sich in eine Sackgasse manövriert und sich umgebracht. An diese Erzählung haben sich viele erinnert, als diese Woche Montag der russische Transportminister, ein sportlicher Marathonläufer Roman Starowoit, starb. Die offizielle Nachricht von seinem Tod lautete, der russische Präsident habe ihn von seinen Aufgaben entbunden, woraufhin er sich zwei Stunden später mit seiner Dienstwaffe(Wozu braucht Transportminister eine Knarre?) in seinem Dienstauto in den Kopf schoss. Später hieß es, die Pistole hatte er als Auszeichnung für seine Dienste von eben diesem Präsidenten 2023 bekommen. Erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit sich die Nachricht von seinem Tod ausbreitete. Wenig später hieß es, Roman Starowoit habe sich am Abend davor erschossen, bevor er suspendiert wurde. Das hieße, Putin entließ einen bereits toten Minister, aufgrund seines Ablebens. Angeblich wusste der Minister, dass gegen ihn ermittelt wurde und wollte nicht ins Gefängnis kommen. Starowoit war Gouverneur des Kursker Gebiets bevor er zum Transportminister befördert wurde. Das Gebiet bekam 2023 eine üppige Finanzierung für die Sicherung der Grenze zur Ukraine. Es mußten zahlreiche Panzersperren aus Stahlbeton, im Volksmund Drachenzähne genannt, entlang der Grenze errichtet werden. Sie wurden bestellt und aufgestellt, hinderten jedoch die ukrainischen Streitkräfte nicht daran, die Grenze zu überschreiten und für ein halbes Jahr russisches Staatsgebiet zu besetzen. Irgendetwas war beim Errichten der Drachenzähne schief gegangen, sie waren anscheinend zu weit auseinander aufgestellt worden und nicht alle waren aus Stahlbeton, einige aus Kalkbeton Nachdem die russischen Streitkräfte die Ukrainer wieder rausgekämpft hatten, begann die Untersuchung. Der stellvertretende Gouverneur wurde verhaftet, sein Chef zum Transportminister ernannt, eine gängige Art jemanden an der kurzen Leine zu halten, damit er nicht wegläuft. Die Duma, das russische Parlament, das nach der geltenden Gesetzgebung jeden Ministerposten absegnen muß, hatte die Kandidatur von Starowoit mit einer Rekordzahl an Stimmen unterstützt. Angeblich hatte dann der Stellvertreter gegen seinen Chef ausgesagt, womit die Tage des Ministers gezählt waren. Diese Geschichte schlug wie eine Bombe in der oberen Beamtenriege ein. Ein Kollege des Transportministers, der während einer Regierungssitzung die Nachricht von seinem Freitod bekam, erlitt direkt im Saal einen Schlaganfall und starb auf der Stelle. Die Nerven der Beamten liegen blank. Die von Putin angeordnete „Spezielle Militäroperation“ hatte die oberen Regierenden in eine Sackgasse manövriert. Früher waren die Risiken ihrer Jobs überschaubar: Verlust des Arbeitsplatzes, Frührente, im schlimmsten Fall eine Verbannung. Der Tod als Strafe stand nie auf dem Programm. Früher konnten sie sich im Notfall zurückziehen, ihr Eigentum schützen, sich selbst samt Familie ins kultivierte Ausland retten, in ein Land mit funktionierendem Rechtschutz. Damit war es mit Beginn des Krieges vorbei. Die wenigen Wege nach draußen, die noch geblieben sind, Türkei, Kasachstan oder Dubai sind keine sicheren Orte. Dort können sie ebenfalls verhaftet, ausgeliefert, gar umgebracht werden. Sie sitzen in der Falle. Natürlich werden diese Menschen keinen Widerstand leisten, ihre einzige Hoffnung ist es, den Chef zu überleben, zu warten, bis sich die Sache mit dieser verfluchten Militäroperation irgendwie von allein auflöst. Laut Berichten ist der Alkoholmissbrauch unter den Beamten der höheren Dienstgrade enorm gestiegen, mit Fischsoljanka ist ihnen jedoch nicht mehr zu helfen.
Der Juni war unruhig geraten, jeden Tag Schlagzeilen mit Frage- und Ausrufezeichen: „Bombt Trump Iran?“ „Eis zu teuer. Kugelpreise entfachen Frust!“ titelten die deutschen Zeitungen. Jede Nacht wurde irgendwo gebombt, die Menschen, die darüber nur aus den Nachrichten erfahren, gewöhnen sich schneller daran, als diejenigen deren die Bomben auf den Kopf fallen. Russische Armee stürmt seit dreieinhalb Jahren Kupjansk, man fragt sich, was da von Kupjansk übriggeblieben ist? Aber die Russen fragen sich das nicht. Auch im vierten Jahr des Krieges sind die russischen Großstädte ruhig geblieben, sie wollen nichts vom Krieg wissen. Fast nichts. Und die Regierung tut alles Mögliche, damit das auch so bleibt. Sie will den Menschen um jeden Preis ein trügerisches Gefühl der Sicherheit geben. Die Bevölkerung soll wissen, alles läuft nach Plan. In Juni fanden beinahe jede Woche patriotische Kongresse, Wirtschaftsforen und Symposien statt, die sich mit der Zukunft Russlands beschäftigen. Diese Kongresse haben noch immer den Zusatz „International“ in ihren Namen, es soll keiner auf die Idee kommen, dass das Land international isoliert ist. In der heutigen Welt der digitalen Medien lassen sich die Selbstsicherheit des Staates und die internationale Akzeptanz gut faken. Das einzige Problem ist, es ist in der letzten Zeit schwierig geworden, internationale Gäste von Belang für diese Kongresse aufzutreiben. Die politischen Akteure des Westens, Europäer und Amerikaner, meiden Russland. Die chinesischen Freunde sind auch nicht scharf darauf, in den russischen Kongressen zu sitzen. Die iranischen Kollegen mussten sich sehr tief unter der Erde verstecken. Es bleiben nur die Taliban, einige afrikanischen Teilnehmer und natürlich Frau Kneissle, die ehemalige österreichische Außenministerin, die schon vor vielen Jahren auf ihrer eigenen Hochzeit in der Steiermark mit Putin tanzte. Der russische Präsident hatte ihr zu Hochzeit den Berichten zufolge einen echten Tanzbären geschenkt und einen Kosakenchor in die Steiermark einfliegen lassen. Seitdem ist viel Wasser den Bach runter und manchmal rauf geflossen, Frau Kneissle wurde ihres Amtes enthoben, ihr Mann, der Bär und die Kosaken sind ihr weggelaufen, sie fühlte sich in Österreich zunehmender Hetze ausgesetzt und bat Putin um humanitäres Asyl. Nun sitzt sie auf etlichen Podien der russischen Zukunftskongresse und mimt das Interesse des Westens. In ihrer Freizeit lebt sie auf dem Land und melkt eine Kuh, die sie günstig erworben hat. Sie hat Melkkurse absolviert und gestand einer russischen Zeitung, dass „Melken eine wunderbar spirituelle Art ist zu meditieren“. Arme Kuh.
Zum aktuellen Kongress „Russland 2050“ haben sich die Gastgeber aber bei der Suche nach möglichen ausländischen Gästen mit aussagekräftigen Namen Mühe gegeben und einen tollen Fang ans Land gebracht. Einen ganzen Musk, nicht Elon sondern Errol, den Vater des reichsten Menschen der Erde.
Der Vater von Musk wurde aus Süd-Afrika nach Moskau gelotst und mit einer Gage im sechsstelligen Bereich beehrt. Erstaunlich, aber wahr, anscheinend gibt der reichste Sohn der Welt seinem Vater kein Geld und lässt ihn von Schurken bezahlen. Drei Tage lang lief der Vater von Musk durch Moskau und machte den Job des Putinverstehers und Russlandfreundes, begleitet von Journalisten und russischem Staatsfernsehen, die seinen Besuch medial ausschlachteten. Der Vater machte seinen Job gewissenhaft, er druckste nicht und produzierte Schlagzeilen ohne Ende. Die Moskauer erfuhren verblüfft Tag für Tag, was der Vater von Musk zum Frühstück gegessen und welches Restaurant er besucht hat. „Der Vater von Musk lobte die Quarktaschen“ lasen die Russen in der Zeitung und dachten „Aha, wer hätte das gedacht.“
„Die russischen Lebensmittel schmecken sehr frisch,“ äußerte sich der Vater von Musk. „Ich fühle mich hier sicherer als in den USA. Die Menschen sind sehr freundlich, offen und direkt.“
„Der Vater von Musk hat mit 500 Frauen geschlafen“ titelte eine Internetzeitung. Mit dieser Information konnten die Russen nichts anfangen, die Schlagzeile wurde wenig später entfernt. In einem großen Fernsehinterview fragte Putins Lieblingsjournalist den Vater von Musk, welche Erziehungsmethode er anwandte. Immerhin sei es ihm gelungen, den reichsten Mensch der Welt großzuziehen. „Was muss man tun, damit die Kinder zu Genies heranwachsen?“ fragte der russische Journalist. „Man musss sie öfter schlagen,“ sagte der Vater von Musk. Der Journalist hielt das für einen Witz und lachte fröhlich, doch der Vater von Musk bestand auf seiner Weisheit. „Man muss den Kindern richtig einen Klaps auf den Po geben, morgens, mittags und abends,“ erklärte der Vater von Musk. Eine unangenehme Pause entsand. In Russland darf nur einer alle schlagen, dass hat der Vater von Musk nicht realisiert. „Aber wichtig ist, wessen Hand die Kinder verkloppt!“ versuchte der Journalist die Unannehmlichkeit aufzulösen. Es muss schon eine besondere Hand sein. „Ich bin bereit“ sagte der Vater von Musk und hob die Hand. Er wartete, dass die Russen ihm ihre Kinder dachte zum Schlagen bringen. Meine Cousine in Moskau hatte die Reportage gesehen und seufzte „Oh Gott, was für ein Idiot!“
Die Sommerabende werden länger, ich fülle sie mit neuen Geschichten bei den Auftritten nächste Woche. Ich bin im Norden unterwegs:
Am 26.06. In der Hansestadt Stralsund in der Kulturkirche St.Jakobi
Am 27.06. In Bad Doberan im Kamp Theater
Am 28.06 In Waren/Müritz im Bürgersaal und
Am 29.06. im Centralkomitee in Hamburg
Alle sind willkommen
Manchmal passieren merkwürdige Dinge in der russischen Bücherwelt. Der Verlag „Weiße Krähe“ hat eine Rückrufaktion der Kinderbuchreihe „Pettersson und Findus“ angekündigt, alle Bücher dieser Reihe dürfen ab sofort nicht mehr verkauft werden. Die Buchhändler und Bibliotheken müssen sie aus dem Regal nehmen. Kann das wahr sein? Ja, es werden in heutigem Russland Bücher verboten, solche mit politischen Inhalten, mit Kritik am Regime, von den ausgereisten Schriftstellern, die den Status „unerwünschter Personen“ oder „Agenten des ausländischen Einflusses“ vom Justizministerium bekommen haben, sowie Bücher, in denen „nichttraditionelle Partnerschaftsformen“ beschrieben werden. „Propaganda für Homosexualität“ und „Verschmähung der traditionellen russischen Werte“ wird unter Strafe gestellt. Aber Findus und Pettersson? Wie kamen sie auf die Liste der verbotenen Literatur? Die Abenteuer des alten Schweden und seines launischen Kätzchens sind in Russland sehr beliebt, gefühlt in waren diese Bücher in jeder Hausbibliothek vorhanden, in jeder Familie, die Kinder hat. Verstößt etwa die enge Beziehung zwischen Petterson und Findus auch gegen die traditionellen russischen Werte? Und weiß jemand, was diese Werte genau sind? Damit tun sich die Russen zur Zeit schwer. In seiner neuen Rolle als „eigenständige Zivilisation“ und „eine souveräne russische Welt“ übt das Land erst zu laufen, manchmal hat man das Gefühl, der Schuh ist zu groß.
Der unfehlbare Staatsmann, der Herrscher und Hüter dieser „Zivilisation“, der das russische Volk wie kein anderer versteht, sitzt ganz oben und redet nicht viel. Ab und zu sagt er etwas über die Wichtigkeit der traditionellen Werte, aber er geht nicht ins Detail. Gleichzeitig ist er als eine leicht reizbare und nachtragende Person bekannt. Unter ihm leben Menschen, deren Aufgabe es ist, den Herrscher nicht traurig zu machen. Die Kommunikation zwischen dem Staat und der Bevölkerung funktioniert nach dem 3 G-Prinzip: Geld, Gewalt und Gesang. Die unzähligen Geheim- und Sicherheitsdienste sorgen dafür, dass niemand ungestraft bleibt, der eventuell etwas im Schilde führen könnte. Für Loyalität wird gezahlt, die Aufgabe der Kultur ist es, dieses neue Russland zu besingen, mit der Botschaft: Noch nie und nirgends war das Leben so schön und die Menschen so glücklich, wie in der russischen Welt der traditionellen Werte. Das Problem ist, eine genaue Beschreibung dieser Werte fehlt, die Liste der unerwünschten Personen, Extremisten und verbotenen Büchern wird Woche für Woche länger.
Die Bürokratie des russischen Staates muss auf eigene Gefahr handeln, um die Vorstellungen des Chefs umzusetzen, die wahrscheinlich nicht einmal der Chef selbst kennt. Wie jede Bürokratie handelt die russische nach dem Prinzip „übertriebene Vorsicht ist besser als Nachsicht“ Für ein Verbot zu viel wird man nicht bestraft, während die Nachlässigkeit gefährlich sein könnte. Mit Rage werden in Russland Dinge bekämpft, die leicht zu bekämpfen sind. Filme oder Theaterinszenierungen lassen sich zum Beispiel leicht verbieten. Sie werden einfach nicht gezeigt. Dasselbe gilt für Menschen, die sich zu Fragen äußern wollen, die sich nichts angehen: Politik, Wirtschaft, Krieg in der Ukraine, Child free und die sog. „nichttraditionellen Liebesformen“. Doch die Gesetze sind lasch formuliert, jede Äußerung oder auch Schweigen könnte als Propaganda für Homosexualität gedeutet werden und die besorgten Bürger schlafen nicht. Es wird denunziert, Clubs mit einem falschen Programm werden geschlossen, Galerien kaputt geschlagen.
Schwieriger wird es, wenn es um Bücher geht. Die Bücher werden nach wie vor millionenfach in Russland gedruckt, es sind sehr viele Buchstaben und nicht einmal der Chef persönlich weiß, was in all diesen Büchern steht. Letzten Endes wird im Verlagswesen auf die Selbstzensur gesetzt, schließlich schützt Unwissenheit nicht vor Strafe. Die Verlage müssen selbst handeln und ihre Produktion mit wachen Augen durchlesen. Sollten sich besorgte Bürger jemals beschweren, sind die Verleger nämlich geliefert. Und die Leser? Im Internet kursieren Gebrauchsanweisungen für Leser der verbotenen Literatur, sorgfältig von Juristen zusammengefasst, es verhält sich nämlich mit der verbotenen Literatur in Russland wie mit dem Cannabisrauchen in Deutschland, erzeugen und verbreiten ist strafbar konsumieren erlaubt. Oder doch nicht? Kann das Lesen bzw. Vorlesen eines verbotenen Buches als Propaganda für Homosexualität gedeutet werden? Ja, sagen die Juristen und empfehlen, die Bücher mit unsicherem Inhalt gut zu verpacken, am besten in eine patriotische Zeitung einwickeln und im öffentlichen Verkehr aufpassen, dass keiner dir über die Schulter in deinem Buch mitliest. Es ist allerdings nicht immer leicht herauszufinden, welche Literatur schon verboten ist oder noch auf dem Weg dahin. Es existiert zwar eine Liste der verbotenen Literatur, die Bücher mit politischem Inhalt, von den Regimegegnern verfasste Werke sind auf dem Index, sowie Literatur, die sich eine Beschreibung nichttraditioneller Werte erlaubt, doch damit ist das Problem nicht gelöst. Findus und Petterson sind zum Beispiel nicht verboten. Man darf sie aber trotzdem nicht verkaufen. Was ist passiert? Die Übersetzerin der Kinderbuchreihe war nebenberuflich politisch aktiv, sie arbeitete für „Memorial“, eine in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation, verließ das Land nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine und wurde nun als unerwünschte Extremistin eigestuft. Weil ihr Name auf dem Cover steht, darf das Buch laut der neuen Gesetzgebung nur in schwarzes Papier gewickelt mit der Bezeichnung 18 + in den Regalen ausliegen. Der Kauf eines solchen Buches kann unter Umständen als politisch motivierte Tat gedeutet werden. Was hat der Verlag nun vor? Ich denke, sie wollen die Bücher jetzt ohne den Namen der Übersetzerin neu drucken. Ob das hilft, weiß man nicht.
Die Ukrainer haben russische Militärflughäfen zerstört, angeblich ist ein Drittel der verfügbaren Flugzeuge dabei weggesprengt worden. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine kommt zurück ins Angreifer Land, er ist längst zum Alltag geworden. Wie reagieren die Menschen darauf? Die einzige Reaktion in sozialen Medien auf Drohnenangriffe war: „Ohoho!“ und „Wow!“ Das Leben ist Fatum, des Menschen Verhängnis. Wir sind ihm ausgeliefert. In allen Lebensbereichen sehe ich diese fatalistische Haltung, neulich habe ich mit meiner Tante in Moskau telefoniert. Über Krieg reden wir nicht.
Seit April ist das alles beherrschende Thema in Moskau: die Heizung. Aus einem schwer nachvollziehbaren Grund ist es den Moskauern nicht erlaubt, selbst die Temperatur in ihren Wohnungen zu regeln. Die Stadt hat ein Zentralheizungssystem, das von der der Stadtregierung auf direkten Befehl des Bürgermeisters zwei Mal im Jahr geregelt wird, d.h. einmal an- und einmal ausgeschaltet wird. Das einzige, was die Bürger selbst in die Hand nehmen dürfen, ist, die Fenster zu öffnen und zu schließen. Die Entscheidung über das Abschalten der Heizung richtet sich nicht nach den Wetterbedingen nicht nach der Position des Planeten Erde im Umlauf der Sonne und nicht nach den Problemen der Bürger. Sie richtet sich allein nach den Flausen im Kopf des Bürgermeisters. Das führt dazu, dass es im Winter saukalt und im Sommer unerträglich warm ist, manchmal aber auch umgekehrt. Das Wetter spielt nicht nur in Deutschland verrückt. Und es wird jedes Jahr schlimmer. Dieses Jahr begannen die Moskauer bereits in April zu stöhnen. Der Monat war sehr heiß gewesen, die Heizung lief auf vollen Touren. Das Internet füllte sich mich Bürgerbriefen an die Stadtregierung und direkt an den Bürgermeister: „Sehr geehrter Sergej Semenowitch,“ schrieben die verschwitzten Bürger.
„Schauen Sie bitte aus dem Fenster, draußen sind es 27 Grad! Die höchste Messung seit Beginn aller Messungen! Die Vögel fallen vor Hitze von den Bäumen, die Katzen brutzeln auf Radiatoren, bitte schalten Sie die Heizung aus! Lieber Sergej Semenowitsch, lassen sie ihre Bürger nicht verkochen, das tut Ihnen doch nicht wirklich weh, eine Handumdrehung und die Heizung ist aus, bitte bitte!“
Die Regierung hörte die Signale nicht. Bedeutungsvolles Schweigen war die Antwort. In Mai waren es plötzlich minus 6 und Schnee. „Lieber über alles geliebter Herr Bürgermeister,“ schrieben die Bürger. „Mit ihrer weisen Entscheidung die Heizung anzulassen, haben sie noch einmal ihre praktische Erfahrung und ihren vorausschauenden Regierungsstil bewiesen. Wir waren ungeduldig, naiv, wir waren wie verheizt. Doch jetzt, wo der kalte Wind des Nordpols uns direkt ins Gesicht pustet, wollen wir uns für ihre weise Führung bedanken. Wir sind absolut sicher, dass ihre weiteren Schritte in Richtung Heizung von der gleichen Ausgewogenheit und Menschenkenntnis begleitet werden.“ Eine Reaktion aus der Machtetagen gab es wie immer keine. Der Juni begann mit Hitze, die Heizung läuft, die Katzen brutzeln.
Ich bin erstaunt über die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung unserer Zivilisation. Der technische Fortschritt und die Erfolge der Medizin haben unsere Lebensqualität ungemein verbessert. In den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern leben heute die Menschen besser als die Könige vor zweihundert Jahren, sie schlafen in gut beheizten Räumen und haben drei Mahlzeiten am Tag. Die Vielfalt der fettarmen Jogurts ist atemberaubend. Die politischen Systeme sind die gleichen geblieben: Diktatur, Autokratie und Demokratie mit Aussetzern. Selbst in den fortschrittlichen Demokratien Europas und Amerikas landen zufällige Menschen in den Machtetagen, Manager, Spinner, unter Aufmerksamkeitsdefizit leidende fröhliche Rentner mit Flausen im Kopf. Diesen Zustand haben wir nicht zuletzt der ungleichmäßigen Entwicklung der Medizin zu verdanken. Der medizinische Fortschritt der letzten hundert Jahren war enorm: Antibiotika, künstliche Kniescheiben und Herzklappen, Organtransplantationen können alle lebenswichtige Funktionen des Körpers stützen und erhöhen das Durchschnittsalter.
So viele Hundertjährige gab es laut Statistik noch nie in der Geschichte der Menschheit. Doch in dieser fortschrittlichen Medizin geht es hauptsächlich um den Körper, der Kopf wird vernachlässigt und bleibt die Schwachstelle der Menschheit. Als Ergebnis dieser Entwicklung haben wir eine Situation, in der die mächtigsten und gefährlichsten Länder der Welt mit dem größten Atomwaffenarsenal: China, Russland, USA von den robusten Übersiebzigjährigen regiert werden, die eine gute Fitness aufweisen, reden und laufen können, aber Flausen im Kopf haben und nicht vorhaben, in Rente zu gehen.
Im Gegenteil arbeiten in diesen Ländern große medizinische Kollektive an der Lebensverlängerung der Greisen, mit konventionellen und unkonventionellen Methoden, so nimmt Trump angeblich extra für ihn entwickelten Antidepressiva, Xi trinkt Bibergeil und Putin wird jeden Morgen im Blut der jungen Maralhirsche gebadet.
Trotz der unterschiedlichen politischen Systeme in diesen drei Ländern – eine Demokratie mit Aussetzern, eine Diktatur und eine autokratische Regierung, neigen alle drei dazu, sich selbst als Nabel der Welt und der Weisheit letzter Schluss zu betrachten. Ihre Völker schweigen, die Stimmen des Zweifels sind kaum hörbar. Durch die Entwicklung des Internets sollten eigentlich alle Stimmen sich besser Gehör verschaffen können, doch das Gegenteil ist der Fall: ein Meer von Stimmen verwandelt sich in weißes Rauschen, in eine unverständliche Soundwolke. Die fachlichen Expertisen werden von den regierenden Greisen nicht angenommen. Ab einem bestimmten Alter ist es einem egal, was die anderen denken. Die letzte Hoffnung der Menschheit ist Biologie, die sich nicht von der Medizin austricksen lässt. Denn sollte es den Greisen gelingen, einmal Unsterblichkeit zu erlangen, haben wir als Spezies ein Problem.
Wladimir Kaminer & Sound 8 Orchestra - Lesung Super8 Synth Performance — SYNTHESIZER MUSEUM BERLIN
13. Juni 2025 Köln – Sancta Clara-Keller | Lesung Wladimir Kaminer und Konzert des Asasello Quartett: “Wir und die schöne neue Welt von Gestern” 20:00 Uhr